Pionierleistung für die Anwendung von durchgängigen Materialdatenräumen
Pionierleistung für die Anwendung von durchgängigen Materialdaten-räumen
Konsortium von sieben Forschungseinrichtungen erzielte im Projekt MaterialDigital große Fortschritte
Das größte Potenzial der Digitalisierung in materialintensiven Betrieben liegt in prozessübergreifender Verknüpfung von Materialdaten. Sie verspricht Bauteil-Entwicklungszeiten zu verkürzen, komplexe Fertigungsprozesse schneller zu optimieren und noch zuverlässigeren Anlagenbetrieb als bisher zu sichern. Das Problem ist die sehr heterogene Natur von Materialdaten. Sie macht die Verknüpfung extrem komplex. Ein Forschungsprojekt des Landes Baden-Württemberg unter Leitung des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM aus Freiburg, MaterialDigital, erzielte jetzt große Fortschritte bei der Strukturierung von Materialdaten zu einem durchgängigen Datenraum.
Nicht nur die Potenziale der Digitalisierung in der Werkstofftechnik sind groß, auch die Herausforderungen haben es in sich. „Materialdaten sind aufgrund ihrer Vielschichtigkeit extrem heterogen und ändern sich auch während des Produktlebenszyklus fortlaufend“, beschreibt Dr. Christoph Schweizer vom Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM die Schwierigkeiten. „Auch dass sie lokal innerhalb eines Produkts variieren und teilweise messtechnisch gar nicht zerstörungsfrei zu ermitteln sind, macht ihre Strukturierung, Speicherung und Verknüpfung so anspruchsvoll.“
Die Industrie steht also vor erheblichen Aufgaben: Wie bekommen wir alle Daten sinnvoll zusammen? Welche Infrastruktur benötigen wir dazu? Wo fangen wir an mit der Integration eines Datenraumes? Antworten auf diese Fragen liefert Dr. Christoph Schweizer jetzt gemeinsam mit einem Konsortium von sieben Forschungseinrichtungen, die sich 2018 im Forschungsprojekt „MaterialDigital“ zusammengeschlossen hatten. Das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg förderte das Projekt mit 2,75 Millionen Euro.
Obwohl die Eigenschaften des Materials im Mittelpunkt stehen, stellen die Prozesse das verknüpfende Element dar. Ohne die Prozesse können die temporär abhängigen Materialeigenschaften nicht in Beziehung gesetzt werden. Die Digitalisierung und nach Möglichkeit auch automatisierte Erfassung der Materialeigenschaften unterstützen den effektiven und effizienten Einsatz des Materialdatenraums. Im Rahmen des Projekts entwickelte das FZI ein Reifegradmodell, welches mittels eines prozessbasierten Ansatzes die Ermittlung des aktuellen Digitalisierungs- und Automatisierungsgrades ermöglicht und Unternehmen bei der Wahl des angestrebten Reifegrades unterstützt. Der angestrebte Digitalisierungsgrad wird im Rahmen des Modells differenziert betrachtet, denn nicht immer ist die vollständige Digitalisierung wirtschaftlich sinnvoll, gesellschaftlich erwünscht oder rechtlich abbildbar. Eingebettet in eine Methode erlaubt das Reifegradmodell die Bestimmung der grundsätzlichen Eignung von Prozessen für den Materialdatenraum. Die Methode dient darüber hinaus zur Bestandsaufnahme und Erschließung der im Prozess vorliegenden (Material-)Daten sowie zur Planung von weiteren Aktivitäten zur Digitalisierung mit dem Ziel den Materialdatenraum mit relevanten Materialeigenschaften und Prozessparametern anzureichern.
Pionierarbeit für den Materialdatenraum
Anhand von zwei Anwendungsfällen konnten die Partner zeigen, wie Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer materialintensiven Prozesse vorgehen können, um einen durchgängigen und maschinenlesbaren Datenraum zu erhalten. Der vom Fraunhofer IWM koordinierte Anwendungsfall betraf den Kokillenguss von Aluminiumteilen, wie er beispielsweise in der Automobilindustrie und im Maschinenbau eingesetzt wird. Dazu entwickelten sie notwendige Grundlagen wie Software-Werkzeuge zur Strukturierung der Daten sowie zur Automatisierung der Workflows, und schufen darauf aufbauend einen beispielhaften Materialdatenraum. Darüber hinaus erbrachten die Partner auch den Beweis, dass digitale Wertschöpfungsketten einen großen Mehrwert bedeuten. Mithilfe realer Material- und Prozessdaten konnten die beteiligten Forscherinnen und Forscher mit einem digitalen Zwilling aufwendigere Simulationen umgehen und gleichzeitig die Bauteileigenschaften präziser vorhersagen. „Auf Basis von Datenraumabfragen können in materialintensiven Betrieben schnelle und präzise Entscheidungen getroffen werden, anstatt teure und zeitraubende ‚Trial & Error-Schleifen‘ drehen zu müssen“, sagt der Gesamtprojektkoordinator Dr. Christoph Schweizer. „Unsere Datenraum-Architektur ist so konzipiert, dass sie sich problemlos auf andere Materialprozesse übertragen lässt“. Werkzeuge und Workflows stehen somit der potenziell interessierten Industrie zur Verfügung, um sie an ihre jeweiligen Bedürfnisse anzupassen. Die im Projekt-Anwendungsfall des Aluminiumgussprozesses strukturierten Materialdaten wird das Konsortium als Best-Practice Beispiel zur wissenschaftlichen Nachnutzung noch veröffentlichen.Forschungspotenziale bei Dezentralisierung und KI
Für Dr. Christoph Schweizer begann direkt im Anschluss an das Landesprojekt MaterialDigital ein darauf aufbauendes Fraunhofer-internes Programm, mit dem die Datenraumtechnologie dezentral einsatzfähig werden soll. „Weitere Forschungspotentiale des Materialdatenraumes liegen insbesondere noch bei integrierbaren Logiken und der Ausnutzung von maschinellem Lernen“, sagt der Geschäftsfeldleiter für Werkstoffbewertung und Lebensdauerkonzepte. Trainierte Computermodelle könnten aus den Prozessgraphen noch nicht hinterlegte Gesetzmäßigkeiten herauslesen und nutzbar machen. Damit wären weitaus spezifischere Aussagen möglich und der Modellierungsschritt ließe sich drastisch minimieren.
Details zur Materialdatenraumtechnologie
Zentrales Anliegen des Konsortiums war die Entwicklung der technischen Grundlagen und Workflows für den Materialdatenraum auf Basis von etablierten Standardformaten. Insbesondere das Fraunhofer IWM war hier mit seinen Kompetenzen im Datenhandling gefragt. »Bei der Entwicklung einer einheitlichen Datenstruktur für materialintensive Prozesse mussten wir praktisch bei Null anfangen, weil es noch so gut wie keine Vorarbeiten gab«, erläutert Dr. Christoph Schweizer.
Grundlage eines jeden Datenraumes ist eine Ontologie, also eine gemeinsame Sprachregelung, die sicherstellt, dass alle Daten sich eindeutig einordnen lassen. Im Landesprojekt bedienten sich die Beteiligten an vorgefertigten Basis-Ontologien und ergänzten das gerade in der Werkstofftechnik besonders breite Fachvokabular. In Beziehung setzten sie die Daten innerhalb des Datenraums dann mithilfe eines Wissensgraphen, der Daten logisch miteinander verbindet. Ein bekanntes Beispiel für die Anwendung von Wissensgraphen sind die Infoboxen, die Google über den einfachen Links eines Suchergebnisses präsentiert. Sind beispielsweise Hauptstädte, das lokale Wetter oder Kinoprogramme gesucht, zeigt Google passende Bilder und Erklärungen in einer grau umrandeten Box über den eigentlichen Suchergebnissen.
App übersetzt Prozessgraphen in Excel-Vorlage
Mit Hilfe dieser Grundstruktur aus Ontologie und Wissensgraph konnten die Forscherinnen und Forscher zunächst einzelne Prozessschritte der Anwendungsfälle beschreiben, die sogenannte „Prozessmodellierung“. Im nächsten Schritt wurden die Einzelprozesse gemäß ihrer chronologischen Abfolge in der realen Prozesskette zu einem virtuellen Netzwerk miteinander verbunden. In diesem finalen Materialdatenraum sind dann nicht nur die Prozessbeschreibungen mitsamt ihrer Metadaten verfügbar, sondern über Verknüpfungen auch die Rohdaten maschinell zugänglich, sodass eine Vielfalt an Auswertungen möglich ist.
Damit auch Laien den Datenraum mit Daten befüllen können, programmierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Projektes eine App, mit der sich die modellierten Prozessgraphen vollautomatisiert in eine Excel-Vorlage konvertieren lassen. Diese Datei kann bei Bedarf von Hand befüllt werden und erfordert somit keine Vorkenntnisse von Datenräumen.
Erfolgreiche Verbesserung beim Gießprozess
Den Nachweis, dass diese strukturierte und übergreifend verknüpfte Wissensbasis echten Mehrwert bringt, erbrachten Schweizer und Co durch die Integration von experimentellen Daten und Simulationen. Für ein Gussteil erzeugten sie so einen digitalen Zwilling, der den Zusammenhang der örtlich unterschiedlichen Erstarrung beim Gießen und der örtlich variierenden Härte ausnutzt, um ein Simulationsmodell mit heterogen verteilten mechanischen Eigenschaften aufzubauen. Über Erkenntnisse aus dem Datenraum kann das Simulationsmodell zusätzlich mit präzise gewählten Werkstoffparametern gefüttert werden, die die gussteilspezifische chemische Zusammensetzung und Wärmebehandlung berücksichtigen.
Auf Basis des digitalen Zwillings konnten die Forscherinnen und Forscher die funktionellen mechanischen Eigenschaften des Gussteils nachweislich präziser vorhersagen als mit chargenunabhängigen Materialkennwerten. Dies ging deutlich schneller und mit weniger Aufwand als mit bisherigen Methoden.
Den Abschlussbericht des Landesprojekts MaterialDigital im Rahmen der Förderung von wirtschaftsnahen Forschungsvorhaben mit Bezug zur Umsetzung der Digitalisierungsstrategie des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg im Themenfeld Digitalisierung: „Chance für Nachhaltigkeit und Energiewende“ finden Sie unter diesem Link.
Am Projekt beteiligte Institute:
- Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM
- Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie ICT
- Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM
- FZI Forschungszentrum Informatik
- Deutsche Institute für Textil- und Faserforschung DITF
- Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut NMI
- Forschungsinstitut Edelmetalle + Metallchemie fem
Pressekontakt
Johanna Häs
Bereichsleitung Communications
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